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Sebastian aus Chicicastenango


Komme gerade aus Chici, wie es im Umkreis genannt wird, Chicicastenango. Es wurde für Touristen wegen des Marktes bekannt, der donnerstags, also heute und sonntags stattfindet.


Der Markt war mir im Vorfeld nicht so sonderlich wichtig. Ich wollte einfach den Ort sehen und den Weg dorthin kennenlernen, in den öffentlichen Chicken Bussen, die zu Guatemala gehören wie Tortillas und die Machete die im Gürtel der Campesinos steckt.


Beim Start in Pana hatte einer dieser alten amerikanischen Schulbusse an der Haltestelle seine Frontmotorhaube weit offen. Es wurde hektisch gewerkelt um ein Problem zu beheben. Deshalb stieg ich in den nächst daherkommenden, der noch Werkzeug für den ersteren ausborgte.


Es ging die Bergstraße hinauf nach Solola. Eine Strecke die ich bereits gut kenne, sie hat einige famose 'miradores', Aussichtspunkte hinunter auf den Lago Atitlan. Vor ein paar Wochen hatte ich versucht die steile und kurvenreiche Straße zu erwandern, es ist als Fußgänger aber schlichtweg zu gefährlich. Der Platz fehlt an jeder der Fahrbahnseiten. Also mehr Stress als Freude.


Das kleine Städtchen Solola ist Provinzhauptort, deshalb gibt's eigentlich regelmäßig Stau in und aus dem Zentrum. Darum sprang ich vorzeitig aus meinem ersten Chicken Bus dieses Tages, um ins Ortszentrum zu Fuß zu gehen. Dort machte ich noch ein paar Fotos dieser auffallenden, dekorierten Ami-Schulbusse und stieg in einen nach Los Encuentros ein.


Ich musste mich schon vor dem Einsteigen bei einer Kontrollorin vorbeischwindeln und saß dann nicht lange wartend im hinteren Busbereich, bis ein anderer Chico mit Gel für meine Hände ankam. Ich verneinte, wie immer bei diesen aufgedrängten Aktionen. Dieses komische Zeug lasse ich nicht auf meine Haut. Damit war die Sache aber noch nicht gegessen, denn er bestand bald darauf, dass ich eine Maske aufsetzen sollte. Ich antwortete, ich habe keine. Der junge, ambitionierte Mensch ließ nicht locker und holte vorne beim Führercockpit einen Pack neuer Wegwerfplastikmasken und bot sie mir an. Reflexartig nahm ich eine, in dem Moment überrascht von dem aufdringlichen Angebot, er hielt mir die Packung ja mitten vor mein Gesicht.


Fast im gleichen Moment ärgerte ich mich bereits so ein komisches, erniedrigendes Ding angenommen zu haben, gleichsam im Affekt. Setzte den Lappen aber nicht auf. Als der Busjunge das bald auch bemerkte, kam er erneut zu mir und meinte, wenn ich sie nicht trage, kann ich nicht mit diesem Bus fahren. Ich erwiderte, gut, dann nehme ich einen anderen, und stieg sofort aus.


Ich war von der ganzen Begebenheit erst einmal derart geschockt, dass ich mich bewegen musste, und zwar in meine gewünschte Zielrichtung durch die Gasse aufwärts. Ich hatte inzwischen circa 1 Monat keine Maske mehr getragen und war absolut verärgert. Ich zog so lange bergauf bis ich an den Ortsausgang kam, immer ein Auge im 'Rückspiegel', ob ich einen Kleinbus anhalten könnte. Ich marschierte weiter in Kurven, ständig hinauf und auf der Seite kein Platz, dass ein Vehikel stehen lassen konnte um mich aufzuschnappen. Das änderte sich auch im Verlauf der Straße nicht. Was sich zunehmend besserte war die Sicht auf die Stadt, den See und die mächtigen Vulkane. Fuego rauchte seine Pfeife mit tollen Megarauchringen wie ich es schon öfters von Antigua aus beobachten konnte.

Irgendwann gab ich meinen Plan heute noch nach Chicicastenango zu gelangen auf, drehte um und bremste über eine Abkürzung hinunter in das Bergstädtchen. Ich dachte mir, nun gut, dann soll's eben heute nicht sein.


Wider Erwarten saß ich schlussendlich doch in einem gelben Chicken-Bus, in dem mir nicht klar war, geht's jetzt nach Pana, oder doch Los Encuentros. Das zweitere stellte sich dann heraus und wir knatterten die Berghügel hinauf. Die Transportjungs waren heute aber so scharf, dass ich nicht umhinkam eine schwarze Maske wenigstens über den Mund zu ziehen.


Los Encuentros, wie der Name schon sagt ist ein Treffpunkt, in dem Fall von viel Verkehr und vier Himmelsrichtungen. Ein andere Name für diesen Knotenpunkt ist treffend 4 Caminos, also vier Wege. Mein Weg war ein kurzes Umsteigen in einen weiteren bunten Bus nach Chici. Ein Straßenverkäufer wurde eine kleine Portion Papas bei mir los, papas fritas, Chips Englisch, oder wie in Österreich genannt, Pommes, aus dem Französischen, pommes frites. Sie waren halbwegs warm, steckten in einem Papiertütchen woraus ich sie mit einem Zahnstocher fischte. Vor uns war eine Strecke von etwa 20 km, kurvenreich, auf und ab, eine Straßenachterbahnfahrt bis wir in Chici landeten.


Wechselseitige Hilfe der Busjungs in Panajachel


Los Encuentros - Wo sich täglich Vieles begegnet


Ich stieg aus und musste erst einmal durchschnaufen und mich etwas akklimatisieren, denn die vorhergehenden Stunden waren etwas turbulent. Der Bus spuckte mich direkt vor dem mittelalterlich aussehenden 'Hotel Santo Tomas' aus. Meereshöhe hier etwa 2000 m. Nachdem ich'mein Hotel' fotografiert hatte, immerhin steht auch bald unser Namenstag des Apostels Thomas am 3.Juli vor der Tür, erwartete ich wilden Marktrubel. Umso überraschter war ich, als ich in ein eher beschauliches, ruhiges Treiben eintauchte ab von Verkehrshektik. Irgendwann stolperte ich dann vor eine Kirche, bzw. unterhalb jene. Davor loderte Rauch und ein Einheimischer legte Blumen nieder und entfachte in der Glut mit seinen Räucherholzstäbchen einen weihrauchartigen Geruch. Ich betrat die kleine Kirche, überall brennende Kerzen, viel Wachs am Boden.


Als ich wieder heraustrat erblickte ich unweit eine anderes weißes Gotteshaus mit roten, langen Fahnen dekoriert. Das schien also die Hauptkirche zu sein, dem Heilgen Tomas geweiht und von den Spaniern auf Grund des vorher stehenden Maya Tempels errichtet. Die 18 steilen Stufen hinauf dazu könnten noch vom Tempel stammen. Ich besuchte auch diese innen und war wirklich beeindruckt, für mich bis jetzt die schönste, alte, simpelste Kirche in Mittelamerika. Ein Mix aus weißem Gemäuer und dunklem Holz, ans Mittelalter erinnernd, auch sämtliche Statuen und Schnitzwerke im Interieur.


Kirche Santo Tomas - Chicicastenango - vorher stand ein Mayatempel auf dem Platz


Es war so viel Wachs herum, speziell um das Tor, dass eine meiner Sohlen sehr rutschig wurde, ein Ausweichen war unmöglich. Kurz darauf hatte ich einen Buben am Hals der mir unbedingt etwas von seinem Zeug verkaufen wollte, das er in einem Plastikkorb und sonst um sich hängen hatte. Ich war ihm als Gringo unschwer in der Menge aufgefallen als ich bei einem Stand bunte Stoffhandyhüllen begutachtete und fast schon eine kaufte. Der Junge schlenderte mit mir mit durch die enge Marktfurche weiter und redete unaufhörlich auf mich ein.


Ich dachte mir, der ist aber hartnäckig! Einerseits gefiel mir das, andererseits hatte er nichts was ich heiß begehrte. Dann meinte er, aber ein Freund von mir könne vielleicht etwas gebrauchen, etwa eine runde Stoffhülle um Tortillas warm zu halten. Davon hatte er drei unter seiner Achsel baumeln. Ich dachte mir, er hat recht, ich könnte jemand ein Geschenk machen. Ich fragte ihn, wie viele sie zu Hause wären. Er antwortete 8 Personen, 2 jüngere Geschwister, Vater und Mutter, zwei Großmütter und er, ein Großvater sei bereits gestorben.


Dann fragte ich ihn, was würde seine Familie machen mit dem Geld das er nach Hause bringt. Er meinte, hauptsächlich Lebensmittel kaufen. Ich fragte ihn ob er Hunger habe, ich lade ihn auf ein Essen ein. 'Magst du Reis?' Der Bursche meinte, hier gibt es keinen Reis, der wird weiter weg angeboten. Meine Idee war daraufhin etwa 2 kg Reis zu kaufen, den er dann mit heimnehmen könnte. 'Bist du jeden Tag hier am Markt beim Anbieten?' fragte ich ihn weiter. Er erwiderte: 'Nein, nur donnerstags und sonntags an den Markttagen.' Drei andere Tage ginge er in die Schule. Ich fragte ihn nach seinem Namen, er antwortete er heiße Sebastian. Dann fragte er mich woher ich käme. Ich erwiderte aus Panajachel. Der Junge meinte, dorthin fuhr er vor Corona um Sachen zu verkaufen, mit seiner Familie. Ich hakte nach: 'Wirklich? Der Weg ist weit und die Fahrt ist recht teuer!' Sebastian: 'Ja, 25 Quetzales eine Strecke.' Das macht für beide Wege am Tag also über 5 € aus. Das muss erst einmal an Profit gemacht werden, damit sich alleine die Reise abzahlt.


Bis jetzt hatte er immer noch seine sterile, bläulich-grünliche Krankenhausmaske in zwei Drittel seines Gesichts. Endlich nahm er sie ab und ich erkannte seinen schönen Mund. Schon vorher hatte ich beobachtet, dass seine Augen glasig waren und traurig aussahen.


Er musste einen schweren Tag gehabt haben. Ich denke mir grundsätzlich, wenn mich jemand um etwas bittet, im speziellen ein Kind, und ich kann geben, warum sollte ich eine derartige Bitte abschlagen? Während unserer ganzen Unterhaltung merkte ich, der Junge braucht Geld, nur das. Vielleicht wurde er auch von seiner Familie unter Druck gesetzt.


Ich zog meine kleines Jeanstäschchen heraus und gab ihm 10 Quetzales. Ich fügte hinzu: 'Das ist (rein) für dich, Sebastian!' Er war so froh darüber. Ich hätte weinen müssen, aber wir waren auf einem zu öffentlichen Platz, so musste ich das unterdrücken. Der Bub bedankte sich artigst. Gleichzeitig dachte ich mir: 'Mei Thomas, das war doch viel zu wenig was du ihm gabst!' Der Moment, der Augenblick war aber auch gelaufen, wir verloren uns im Getümmel aus den Augen. Ich war mir bald sicher, diese 10 Quetzales gibt Sebastian nicht für sich aus, sondern liefert er brav bei seinen Eltern ab.


Straßenverkäufer in Chici - nicht Sebastian - aber ein Kollege auf ähnlicher Mission


Ehrlich gesagt, diese Begegnung hat mich derart berührt, ich brachte sie für weitere Stunden nicht aus dem Kopf. Es bewegte mich so. Er war so tapfer. Als Kind muss er schon richtig reinklotzen, kriegt Druck ab, mit dem er umgehen lernen muss. Das drückte sich in seinen feuchten Augen aus. Tränenwasser drückte sich durch seine Augen den Weg ins Freie, direkt von der Seele kommend.


Jemand wie ich der in einem guten Umfeld aufwachsen durfte, kann sie nicht vorstellen wie es vielen anderen Kindern auf dieser Welt geht. Auf wie viel sie verzichten müssen, was sie entbehren müssen. Wie sie oft misshandelt werden und den Mühen und vielleicht Launen ihrer Familien ausgesetzt sind. Sebastian als ältester von drei Geschwistern hat natürlich eine arg hohe Verantwortung die seine Eltern und seine Rolle ihm aufladen.


Ich hätte wirklich am liebsten sein Schicksal mit einem Schlag und einer Tat verändert und verbessert. Das wäre mein Wunsch gewesen. In etlichen Jahren Leben in Afrika hab ich aber gelernt: Du kannst vorübergehend ein bisschen unterstützen, lindern, Anteil nehmen, dich solidarisch zeigen und etwas teilen. Aber das Schicksal einzelner kannst du nicht oder kaum ändern.


Und dann spricht man in der reichen westlichen Welt von Kinderrechten die jedes Kind hat oder haben soll. Das ist völlig an der Wirklichkeit vorbei. Viele Kinder müssen arbeiten, damit ihre Familien, ihr Clan ein Auskommen hat und überlebt, so einfach ist das. Die Kinder lernen sehr viel dabei. Auch ich musste als Kind arbeiten. Man macht nicht immer alles gerne, aber man lernt Einstellungen und für's Leben selbst. Das Leben ist nicht fair.


Du wirst in eine Familie hineingeboren und somit sind deine Lebensvoraussetzungen von vornherein unterschiedlichste. In einer reichen Familie sind die Umstände ungleich anders als in einer Familie die im Slum wohnt. In beiden Fällen kann das Kind genug Liebe mitbekommen. In beiden Fällen kann das Kind Gewalt und Misshandlungen ausgesetzt sein. Es ist nicht zum Besseren für Kinder wenn sie verwöhnt werden. Es ist nicht angenehm für Kinder wenn sie in ihrer Kindheit dauernd und hart arbeiten müssen, ihr Kindersein bleibt auf der Strecke. Sie können es wohl meist nie mehr nachholen. Außer in einem weiteren Leben. Das Leben ist nicht gerecht.


Frohes, gemeinsames Lernen aus einem Buch - es geht auch ohne (Buch)


Deshalb ist es für mich oberste Maxime, dass wir empathisch sind, uns Gedanken um andere machen, uns versuchen in sie hineinzuversetzen, teilen. Ein nettes Wort, ein Gespräch, ein Lebensmittel, eine Münze, eine Banknote, Verständnis, einen guten Augenblick, einen tiefen Moment.


Dieses Erlebnis heute mit diesem Sebastian hat mich berührt, es hat meinen Tag so viel reicher gemacht. Ich denke auch heute Nacht noch an ihn. Vielleicht hat er mich auch noch nicht vergessen, es würde mich freuen. Wichtig ist es aber nicht. Zwei anderen kleinen Mädchen hab ich heute in einem Chicken-Bus je ein Zuckerl geschenkt, weil sie mich immer wieder neugierig und interessiert angeschaut haben, denn als Gringo schaue ich exotisch aus für sie. Auch das waren schöne kurze Augenblicke für mich, aber auch für sie. Das Glück liegt oft in einem kurzen Moment. Ohne Kinder wäre unsere Welt eine traurige. Wie schön, dass es sie gibt. Jedes einzelne ist ein Geschenk für uns.




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